Der ganz normale Bauwahnsinn

Ich fahre von Dortmund Borsigplatz nach Köln Kalk Post. Beide Orte sind stark befahrene Knotenpunkte von Vierteln, deren Grenzen durch Zug- und Autobrücken markiert sind. Beide Viertel kannten einmal bessere – wirtschaftlich florierendere – Tage. So viel Arbeit gab es hier einst, dass Menschen aus fernen Ländern kamen, zu Fünft in winzige Wohnungen zogen, malochten, ihre Familien nachholten, in dem Glauben, es ginge ewig so weiter. Muskelkraft war gefordert, ob sie die Sprache verstanden, egal. Drei Unternehmen beschäftigten Tausende. Und dann war Schluss, die Unternehmen bankrott oder nicht mehr profitabel. Tausende auch nicht mehr.

Am Dortmunder Borsigplatz ist die Lage heute noch um vieles brisanter als in Köln Kalk, und ich wage zu behaupten, dass es mit an der Isolation liegt, in der die ehemaligen Arbeiterfamilien dort leben. Dortmund ist nicht Köln, keine Stadt, in die so viele ziehen möchten, dass auch nicht so schicke Stadtteile irgendwann eine Menge experimentierfreudiger junger Leute, unvoreingenommener Kreativer und lebenslustiger Querdenker beheimaten und eine multikulturelle Mischung entsteht, die sich gegenseitig belebt und inspiriert. In Dortmund ziehen die wenigsten freiwillig in die Nordstadt, es sei denn, sie stammen aus Osteuropa. Tatsächlich verzeichnet Dortmunds Einwohnerzahl vor allem in der Nordstadt Zuwachs, und der stammt zum Großteil aus Polen. Dank ihrer „ist Dortmund neben Düsseldorf und Köln die einzige Großstadt in NRW mit Zuwachs“, meldeten die Ruhrnachrichten im März diesen Jahres.

Die Grenze zwischen dem „guten“ und dem „schlechten“ Dortmund besteht bloß aus ICE-Gleisen und ist doch eine viel größere Barriere als der Rhein, der das 50-Köln vom 51-Köln mit seiner „schäl Sick“ trennt. Ich habe Dortmunder im gleichen Alter getroffen, die zeitlebens nie einen Fuß auf die andere Seite gesetzt haben, andere, die höchstens im vollverriegelten Auto unter der Bahnbrücke durch zum billigen Kaufland düsen. Es ist völlig übertrieben und sehr seltsam. Wie auch in Köln haben die alteingesessenen Dortmunder die allergrößten Vorurteile gegenüber ihrer Nordstadt, deren ärmster Teil das ehemalige Hoesch-Quartier um den Borsigplatz herum ist.

Ob Köln Kalk oder Dortmund Nordstadt – die Images beider Stadtteile reichen weit über die Grenzen der Stadt hinaus, und je weiter entfernt davon man etwas darüber zu hören bekommt, umso übertriebener klingt es. Hausmeister Krauses „Köln-Kalk-Verbot“ nimmt man am Bodensee sehr ernst, in Dortmunds Nordstadt müsse man morgens vor der Haustür über liegen gebliebene Prostituierte steigen. Letzteres erfuhr ich noch in Köln Kalk lebend von einem WG-Bewerber, der dann doch lieber linksrheinisch einzog. Interessanterweise gibt es trotz solch weit verbreiteter Gerüchte immer wieder auswärtige Kritik am eingeführten Verbot der Straßenprostitution in Dortmund. Diese brachte wirklich Probleme mit sich, wenn auch nicht die, von denen solche Nachreden kursieren.

Das Schlimmste ist, dass die Vorurteile vor allem in den Köpfen der Stadtplaner sitzen. Anders ist es nicht zu erklären, dass man Köln Kalk architektonisch immer lebensunwerter zubaut. Inzwischen ziert ein Ensemble aus Einkaufszentrum, Parkhäusern, Baumarkt, McDonald und Sozialwohnungen das Herz des Stadtteils, der kaum Grünflächen hat. Die übrigen Brachen wurden unter dem Argument, damit Arbeitsplätze zu schaffen, an Logistikunternehmen verschachert. Die setzten aber nur ihre eigenen – wenigen – Leute in die weitgehend automatisiert funktionierenden Lagerquader.

Niemals hätte man es gewagt, Brachflächen auf der anderen Rheinseite so an jedem ästhetischen Anspruch vorbei zu verschachern. Dem Borsigplatz dräut Ähnliches. Statt alles daran zu setzen, für einen lebenswerten Stadtteil zu sorgen, der städtebaulich so attraktiv sein könnte, dass auch Dortmunder aus dem Süden hier leben wollten oder zum Sonntagsausflug herkämen, soll die riesige Brache, die Hoesch hinterließ – fünf Mal größer als die Dortmunder Innenstadt – zu einem Logistikpark inklusive Schnellstraße werden. An eine Erweiterung des Hoeschparks wird nicht im Ansatz gedacht, dabei hat sich die Natur das Werksgelände, auf dem früher 30.0000 Menschen arbeiteten, bereits auf so phantastische Weise zurückerobert, dass Füchse und Rehe hier eine neue Heimat gefunden haben.

Egal? Alles dem Erdboden gleich machen?

Deutschland ist das planierteste Land Europas, erst recht NRW. Hauptgrund für die wachsende Bodenversiegelung ist der Ausbau von Gewerbegebieten und Straßen. Täglich wird eine Fläche von 100 Fußballfeldern auf diese Weise verbraucht. Die Versiegelung verhindert, dass Regenwasser gefiltert abfließt, stattdessen löst es Teer und Reifengummi vom Asphalt und kontaminiert damit das Grundwasser für Generationen. In einem neuen Bericht der Europäischen Kommission wird dringend empfohlen, die Bodenversiegelung zu begrenzen oder Ausgleichsmaßnahmen an anderen Orten durchzuführen.

Doch während auf den anderen Stadtseiten jede verbliebene Freifläche in bevorzugter Lage abgeholzt und zugebaut wird (siehe Kronenviertel und ehemaliger Güterbahnhof an der Hamburger Straße in Dortmund, siehe Südstadt und belgisches Viertel in Köln), stehen nicht nur auf der gegenüberliegenden Seite Wohnhäuser leer. Aus dem ehemaligen WestLB-Gebäude in Dortmunds Stadtzentrum soll ein Ärztezentrum werden, das niemand braucht. Gleich um die Ecke verstauben zwei ungenutzte Einkaufszentren, ein riesiges Schulgebäude im Kreuzviertel gar, und in der Katharinenstraße zwischen Hbf und Reinoldikirche verwahrlost das denkmalgeschützte „Dortberghaus“.

Hartmut Miksch, Präsident der NRW-Architektenkammer, fordert in der WAZ Masterpläne für den Rückbau: „Wir brauchen mehr Grün in den Innenstädten, mehr Freiräume und neue Wohnqualität. Die Politik ist gefordert, diesen Rückbau zu planen, damit er nicht zufällig passiert. Jede Stadt braucht einen Masterplan, muss klären, wo sie in 20 Jahren stehen will.“ Die Einwohnerzahlen in unserer Region werden in den nächsten Jahren deutlich sinken. Ein Wahnsinn also, für Immobilienfonds Häuser hinzustellen, wo vorher Baum und Buschwerk wuchsen.

Auch an Straßenrändern sieht man im Dortmunder Stadtgebiet immer wieder Kahlschlag, dessen Sinn sich nicht erklärt. In der Dreherstraße am Borsigplatz wurden die noch im Frühling davor ausladend blühenden Zierkirschen derart gestutzt, dass die Bäume kaum noch Blätter hervorbringen und einen von ihnen das Zeitliche segnete. Unverstand am Werk? Dabei ist in den Lokalzeitungen doch von der Bewerbung als „Grüne Hauptstadt Europas“ die Rede, von einer großen Umweltzone für die Metropole Ruhr. Das Dortmunder ILS, damit betraut, Ansätze zur Grünflächenentwicklung zu untersuchen, stellt im eigenen Journal (3/11) fest: „Urbane Grünräume finden in der Stadtentwicklungs- und -planungsdiskussion zunehmende Beachtung. Diese Wertschätzung steht in vielen Kommunen in deutlichem Widerspruch zur Realität mit hoch verdichteten städtischen Strukturen, knappen Budgets der Grünflächenverwaltungen und sinkendem Anteil an Grünflächen.“

Dabei könnte urbanes Grün auch Arbeitsplätze entwickeln helfen. In NRW gibt es jetzt eine neue Fortbildung zum „kommunalen Klima- und Flächenmanager“ (aktuelle Informationen zu diesem Lehrgang und seiner Entwicklung sind unter http://moodle.bew2learn.net/ erhältlich). In Berlin haben sich 12 Berufsschulklassen, 30 Lehrer, 330 Mitglieder von „Urban Gardening“-Projekten und über 500 Fachleute regionaler Garten- und Landschaftsbetriebe zusammen getan, um bis 2012 modellhaft fünf Begrünungsprojekte umzusetzen. Speziell konzipierte Schulungen sollen den Azubis berufliche Zusatzqualifikationen vermitteln und eine Karriere in der „Grünen Branche“ attraktiver machen. Die Landwirtschaftlich-Gärtnerische Fakultät (LGF) der Humboldt-Universität begleitet und evaluiert das Projekt. Gefördert wird es von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU). Für Dr. Thomas Aenis, Leiter an der LGF, ist „die Urban Gardening Bewegung gelebte Integration“.

Zu erleben, wie Arbeit im Grünen das soziale Miteinander stärkt, findet auch Christa Müller so sinnstiftend, dass die Ostwestfälin bundesweit mehr als 130 Gartenprojekte berät. Zusammen mit ihrem zehnköpfigen Team gibt sie Machern Praxistipps zum Aufbau von Nutzgärten, hilft bei Fragen zur Organisation, Rechtsform und Fördergeld (Infos: www.anstiftung-ertomis.de). “Die Stadt der Zukunft ist grün“, so die Vision der promovierten Soziologin, und zu hoffen bleibt, dass sie Recht behält, allein wegen der stets überschrittenen Feinstaubgrenzwerte (z.B. an der Brackeler Straße/Borsigplatz, trotz Umweltzone), mit Schuld an der hohen Krebs-Rate in Städten.

In einem neuen Buch der Schwerter Architekturhistorikerin Prof. Dr. Stefanie Lieb entwerfen namhafte Architekten Konzepte für eine Welt, in der man auch morgen noch tief durchatmen kann: Auf von Dschungelzonen umgebenen Straßen der Stadt werden Verkehrsteilnehmer z.B. durch ein System computergesteuerter Elektromobile transportiert. “Futuristic – Visionen vom Leben in der Zukunft” gibt nötigen Utopien Raum. Darin Architekt Werner Sobek, Experte für nachhaltiges Engineering: „Die wichtigste Aufgabe, die Architekten und Ingenieure lösen müssen, ist nicht, für eine Einhaltung aller relevanten Normen zu sorgen, sondern Ökologie atemberaubend attraktiv und aufregend zu machen.“

Dazu hätte ich eine Idee: Wenn man der Natur auf dem ehemaligen Hoeschgelände den ganzen Freiraum ließe und Pflanzen, Blumen und Getier sich ausbreiten, ganz nach ihrer Art. Trampelwege dürften entstehen, auf denen Wandersleute und Radler endlich durch Grün hindurch Richtung Kanal und Lünen könnten. Ein verlorener Stadtteil ohne Ausweg würde ganz neu an Dortmund angeschlossen, würde zum „Quartier am Naturpark“ mit multinationalen Rangern, die in allen Sprachen Führungen für Interessierte gäben. Es könnte alles von selbst geschehen, es bräuchte keinen müden Euro. Der attraktive Park dürfte nicht benutzt werden, um lukrative Neubaugebiete an seinen Rändern feilzubieten. Dortmund würde die grünste Stadt im Ruhrgebiet und machte seiner Nähe zum Sauerland alle Ehre. Wer diese Vision für verrückt hält, daran fest hält, hier Logistik und Asphalt aufzubringen, ist nicht verrückt, sondern irr. Zukunft ist schon lange nicht mehr das, was vermeintlich Geld in die Taschen bringt. So gehen am Ende alle leer aus.

Isabelle Reiff

One comment

  1. Man kann zu den Hauptverkehrszeiten in seiner Wohnung kein Fenster öffnen.

    Die Belastung in der Luft von Abgasen, Motoren etc. ist dermaßen hoch, dass man lieber auf das Lüften verzichtet.

    Mal sehen was die Gesundheit in ein oder zwei Jahren sagt….

    Der Höschpark ist die „einzige Hoffnung“ für die Dortmunder Nordstadt.

    Man sieht doch den Nutzen von solch großen Parkanlagen am Fredenbaumpark.

    Liebe Stadtplaner und Politiker,
    kümmert euch doch bitte nicht nur um den Phönixsee,sondern auch um die Erweiterung der Parkanlagen in der Dortmunder Nordstadt.
    Eine Frischluftschneise entsteht nun mal nur so!

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