von Rolf Dennemann
Am 31.12. 2015 gehe ich um 23.30 zu Bett. Ich hatte mich entschlossen, mich den Feierlichkeiten zu entziehen und ganz normal einzuschlafen, um im Jahr 2016 erst wieder aufzustehen. Mein Wunsch war also, wieder aufzustehen.
Draußen sind die ersten voreiligen Schüsse zu hören. All die, die Angst haben, um Mitternacht überhört zu werden, schreien ihre Böller schon vorab in die Luft. Hört! Hier bin ich und ich knalle. Ich knalle jetzt, weil ich nicht weiß, ob ich das neue Jahr noch erlebe.
Ich schließe die Augen.
Anstatt mich die Wiege des Schlafes zu begeben, reist mein Hirn durch alle Regionen der Welt. Ich sehe Knallerfontänen auf Tonga. Der König von Tonga Tonga, Tonga, erhebt sein Zepter und richtet es in Richtung Borsigplatz.
In Sydney leuchtet das Firmament als gelte es, den Weltuntergang einzuleiten. Zu Füßen der Oper verschluckt sich ein Achtzehnjähriger an einem Drops und fällt tot um. Zur gleichen Zeit sitzt Wilhelm in der Dürener Straße an seinem Küchentisch und versucht, seine Flasche Bier an der Tischkante zu öffnen.
In Hongkong küsst der Suppenverkäufer Wang die Lehrerin Ming, während am Himmel ein Herz-Feuerwerk leuchtet. In Dubai brennt ein Hochhaus.
In Malaga werfen sich die Menschen Weintrauben in den Mund und in Castrop-Rauxel heult einsam ein Hund, während Manfred seinen letzten Korn herunterkippt.
Draußen herrscht Krieg. Darauf wird angestoßen und die vielen Kohlesäureopfer haben bereits ihre Aspirin-Tabletten auf dem Nachttisch platziert.
Plötzlich landet ein Knaller mitten in mein Hirn.
Erinnerungen werden abgespult im Blitztempo.
Bedenkenswertes, Oberflächliches, Berührendes, Ärgerliches, Fragen und Antworten – eine Sammlung kleiner Erlebnisse und Begegnungen während des Projektes zur Erkundung und Beeinflussung der Nachbarschaft: Der Stahlarbeiter als Messdiener und Tanzstubentänzer, der ehemalige Boxtrainer und jetzige Rentner, der Grieche, der als Kürschner hierher kam und ein Geschäft eröffnete als andere vor Kohle oder Stahl schwitzten, die Ex-Gefallene mit zwei Kindern, die jetzt als Disco-Fee Hula-Hoop Performerin ist, der Kiosk Betreiber als Imker und Soziologe, die Hundefrau mit ihren vier chinesischen Tempel-Tölen mit Comedy Ambitionen, der Sitarspieler und Heiler mit der Ruhestrahlung eines Friedens-Reaktors, der 12-jährige als Kochmeister, die Studentin und die obskuren Nachbarn, die afrikanische Kommunion, das Fensterkonzert von Queen, winkende Straßenbahnfahrgäste, die Spielerei mit der freien Republik Borsigplatz, der BVB-Fähnchen schwenkende Pizzabäcker, die Unterhose im Baum, die alle dutzende Frisörin, die Hippie-Wohnung des Lebenskünstlers, die Vogel-Kolonie im Geisterhaus, die Rollstuhlfahrer-Connection, die roten Tänzerinnen im Park, Monopoly für Aufmerksame, die Suppen von André, Biertrinker im Regen, die Kunstablehner, die Kunstverwirrten, das Klinkenputzen bei Eis und Wind, der Blinde und der Taube, das Punk-Konzert und die 90-jährige Zuhörerin. die Wahrheiten.
Stille.
Nur in der Ferne noch ein paar Böllerchen.
In einer Wolke erscheinen Menschen und ihre Wünsche hängen wie Sprechblasen an ihren Lippen. Immer mehr und immer mehr. Wie in einem Drogenrausch höre ich Stimmen. Nichts ist sortiert. Ich versuche, meine Augen geschlossen zu halten und gleichzeitig, ein Lied zu summen……“Atemlos…“
Ich wünsche mir ein neues Jahr, höre ich jemanden flüstern. Ich wünsche, dass Mama mir einen Kuß gibt, dass Papa wiederkommt. Ich wünsche, dass ich mir was wünschen darf. Ich will im neuen Jahr immer zuverlässig sein. Ich will mich regelmäßig rasieren. Ich werde keinen Tropfen mehr trinken. Ich lasse das fluchen. Es soll im Sommer wieder die Sonne scheinen. Ich wünsche mir schönere Lippen. Im neuen Jahr will ich endlich Nein sagen. Ich wünsche mir ein Kind. Ich wünsche mir eine Oma. Ich werde niemandem mehr in die Fresse hauen. 2016 sollen mich alle am Arsch lecken. Ich werde Rücksicht nehmen. Der BVB soll Meister werden. Ich wünsche meinem Onkel, dass ihm der Arm abfällt. Ich werde an einem Friedensmarch teilnehmen. Ich werde einen Friedensmarsch organisieren. Ich werde einen Friedensengel basteln. Ich werde zu Gott beten. Ich verspreche, immer zuzuhören. Ich verspreche, mehr Sport zu treiben. Ich werde einmal pro Woche Sport treiben. Ich werde es einmal pro Woche treiben. Ich verspreche, mehr Luft zu schnappen. Ich werde einen Gymnastikball heiraten. Ich werde nie mehr vergessen, meinen Reißverschluss zuzumachen.
Ich werde zu meiner Schwester brüderlich sein. Ich will eine Frau werden. Ich will ein Mann sein. Ich will keine Plastiktüten mehr benutzen. Ich werde keine Selfies mehr posten. Ich werde Pornos nur noch sonntagmorgens anschauen. Ich verspreche: Bis dass der Tod uns scheidet. Ich werde berühmt. Ich werde berühmt geworden sein. Ich will einen eigenen YouTube Channel gründen.
Mein Wunsch für 2016 ist: Mehr Licht! Mehr Geld, mehr Liebe, mehr Urlaub, mehr Hunde, mehr Fische, mehr Meer. Ich will meinen kleinen Bruder nie mehr mit der Faust ins Gesicht schlagen. Ich werde meinen Lehrer töten. Ich werde den Geburtstag meiner Katze nicht mehr vergessen. Ich will wieder laufen können. Gesundheit, Frieden, Gesundheit, Frieden…mehr Leben, mehr Kalorien, mehr Privatsphäre, mehr Katzen, ein gewaltiger Shitstorm soll alles in Schutt und Asche legen.
So langsam werden die Stimmen leiser und ich höre noch einen Böller, wie er langsam sich am Boden windet, platzen und krachen will, aber letztlich elend versagt und still liegenbleibt.
Ich schlafe ein. Das Jahr 2016 hat begonnen.
Im Briefkasten ein Flugblatt
An alle!
Warnung!
Nicht die Politik, nicht Umweltkatastrophen oder Terror werden uns vernichten, nicht Kim Jong Un, nicht Donald Trump oder Drogenbarone. Nein. Die Verwaltung wird uns töten. Alle. Die Verwaltung ist längst dabei, die Macht zu übernehmen. Verordnungen und Verbote, Regeln und Vorschriften werden uns in den Suizid treiben. Wir werden alle aufgeben und uns unserem Schicksal hingeben. Man wird uns die Verordnungen in die Ohren drücken. Kaum machen wir den Mund auf, wird uns eine Vorschrift in den Rachen geschoben. Wollen wir einen Schritt gehen, schnellen Warnschilder aus dem Boden. Wollen wir ein kleines Geschäft eröffnen, stehen die Vasallen der Verwaltung in Form von Schreiben und Verfügungen vor uns wie Aliens.