Zu den Offenen Nordstadt Ateliers 2019 war der Maler Davoud Sarfaraz Gastgeber in der Galerie 103 und hat ein Wochenende lang Kunst und Leben mit Nachbar*innen und Besucher*innen geteilt, in einer Ausstellung seiner Gemälde und Zeichnungen, mit Gesprächen, Musik und einem gemeinsamen Abendessen. Dr. Helga Janzen führte in das Werk des Künstlers ein:
„Die Welt wartet schon auf die Frauen“ ist der Titel dieser Ausstellung und des Gemäldes, das den Mittelpunkt bildet. Gemalt wurde das Bild vor ca. zwei Jahren von dem persischen Maler Davoud Sarfaraz, der seit 30 Jahren mit seiner Familie in Deutschland lebt.
Nun gut, wird man denken, wenn jemand das autoritäre, frauenfeindliche, religiös-fundamentalistische Regime der Ajatollahs im Iran erlebt hat, ist es naheliegend, ein solches Thema zu bearbeiten.
Nur: Hier ist keine Businessfrau dargestellt, keine Politikerin, keine Sportlerin, nicht einmal eine Mutter mit Kind. Vielmehr eine Gestalt, die frei von irgendwelchen Beschränkungen in luftiger Höhe schwebt. Farbig sind ihre Gewänder. Zielstrebig ihre Haltung, ihr Blick. Was für eine Frau!
Übrigens lautet der Titel des Bildes: „Die Welt wartet schon auf die Frauen“ und nicht der Iran wartet … oder Deutschland wartet… oder Europa … Es muss sich also um etwas Grundsätzliches handeln, das die ganze Welt angeht.
Worauf wartet die Welt? Was fehlt ihr? Frauen gibt es doch genug. Anders sieht es aus, wenn es um etwas geht, das man das „weibliche Prinzip“ nennen könnte. Kurz gesagt um das Gegenteil von „Schneller, Höher, Weiter.“
Es gibt einen Atomphysiker – ausgerechnet! – der meiner Meinung nach sehr schön ausdrückt, was gemeint ist: „Die weibliche Herangehensweise ist nicht auf die Frauen beschränkt. Empathie ist in jedem angelegt, bei vielen jedoch verschüttet durch den Vertrauen zerstörenden wirtschaftlichen Wettbewerb. (…) Unmittelbar und ungekünstelt am Schmerz und der Freude der Umgebung teilzuhaben, ist in uns angelegt. Irgendwie haben wir dieses Urvertrauen einer Gemeinsamkeit in den letzten 3.000 Jahren verloren. In der Achsenzeit, vor 2.500 Jahren, so sagt man, fängt die hehre menschliche Geschichte an. Manchmal denkt man, dass es eher der Anfang der patriarchalischen Dominanz und der vielen großen unmenschlichen Kriege wurde. (…) Ich hoffe, das wir den Schaden minimieren können. Wir brauchen den Mut, das, was wir als Menschen verkorkst haben, auch als Menschen wieder in Ordnung bringen können.“
Was der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr hier mit Worten beschreibt, drückt Davoud Sarfaraz mit seinen malerischen Mitteln aus. Und da erhebt sich die Frage: Wie gelingt es ihm, ein derart aktuelles, überindividuelles, die Tiefen der Seele beunruhigendes Problem so überzeugend darzustellen?
Er selbst ist bereit, über diesen Vorgang Auskunft zu geben. „Ich male nicht, ich werde gemalt“, ist eine seiner prägnanten Aussagen. Doch das ist eher das Ende einer Reihe meditativer Schritte.
„Ich muss mich vom Alltag lösen, denn im Alltag bin ich begrenzt, unfrei und muss funktionieren. Aber in meinem Inneren gibt es einen Raum der Freiheit. Da kann meine Seele baden. Da ist auch der Ort der Inspiration. Da entstehen manchmal Bilder und verdichten sich so, dass ich sie auf die Leinwand bringen kann. Ich denke sie mir nicht aus. Sie entstehen im inneren Raum der Freiheit.“
Davoud hat ein Gedicht über diese Wirklichkeit geschrieben. Ich zitiere einmal einige Zeilen (Den ganzen Text und manch andere finden Sie in seinem Katalog):
„Freiheit verfault nie hinter der Grenze des Wissens.
Sie dringt in den Kreis des Daseins ein.
In ihr erfährt der Genuss seine Tiefe.
Freiheit ermöglicht immer ein Verstehen der Zeichen, in denen der Ursprung transparent wird.
Sie ist die Rückkehr zu einer natürlichen Einheit mit sich selbst.“
Ich gestehe, diese Zeilen waren lange Zeit ziemlich kryptisch für mich. „Okay“, habe ich gedacht, „wäre ich vertraut mit persischer Poesie, hätte ich vielleicht keine Verständnisschwierigkeiten. Aber als ziemlich verkopfte Mitteleuropäerin …“
Und dann lernte ich neue Ansätze in der Psychologie und Neurobiologie kennen, und es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Dieses Gedicht ist Ausdruck einer hochintelligenten Form von Intuition, die „nie hinter der Grenze des Wissens verfault. Sie ist die Rückkehr zu einer natürlichen Einheit mit sich selbst.“
Diese hochintelligente Form von Intuition, so sagen die Forscher, kann man eigentlich nur als weiblich bezeichnen. Sie entzieht sich allem bewussten aktivem, initiativem, zupackendem, rationalem, Projekte entwickelndem Verhalten. In Klammern: Die Wall Street und das Silicon Valley haben großes Interesse an solchen Forschungen.
Wer allerdings die freilassenden, freigebigen, umfänglichen, lebensfreundlichen und lebensförderlichen weiblichen Qualitäten in sich selbst nicht ertragen kann, weil sie sein einseitiges, strenges, dogmatisches, begrenztes, funktionalistisches Weltbild stören, der neigt dazu, wirklich vorhandene Frauen zu misshandeln, wie Davoud es in vielen seiner Skizzen dargestellt hat. Vor allem aber in dem eindrucksvollen Bild „1367“, auf das ich gleich noch zurückkommen möchte.
Wer aber „in den Kreis des Daseins eindringt“, der erlebt, dass „der Genuss seine Tiefe erfährt.“ Dass nämlich „die Freiheit immer ein Verstehen der Zeichen ermöglicht, in denen der Ursprung transparent wird.“ Davon erzählt das Bild „Irgendwo in der Luft“.
Lebenserfüllung ist auch unter den veränderten Bedingungen der Moderne möglich, allerdings nicht mehr in der traditionellen archaischen Form, wie sie die drei betenden Frauen verkörpern. Denn „Freiheit heißt, sich dem Zufall der Schöpferkraft zu überlassen. Sie gebiert die Erkenntnis des Sinns und einen neuen Anfang.“
Ich denke, allmählich dringen wir tiefer ein in das Wesen des „weiblichen Prinzips“. Dass es z.B. ab einer bestimmten Bewusstseinshöhe und -differenzierung das Gefühl Heimat von der Heimaterde entkoppelt und die Lebensfülle überall „Irgendwo in der Luft ermöglicht“. Was das in einer Zeit weltweiter Flüchtlingsströme bedeutet, kann in diesem Rahmen nicht weiter entfaltet werden.
Aber einen kleinen Ausflug in die altpersische Kultur möchte ich unternehmen. Davoud hat mir von dem Dichter und Gelehrten Omar Chayyam erzählt, der von 1048 bis 1131 lebte. Für ihn war der Wein ein Symbol des Lebens, durch den „der Genuss seine Tiefe erfährt“. Er sagte:
„Ohne reinen Wein kann ich nicht leben.
Heiter zu sein und Wein zu trinken ist meine Regel.
Frei zu sein von Glauben und Unglauben meine Religion.
Ich frage die Braut des Schicksals, was ihre Mitgift sei.
‚Dein frohes Herz‘ antwortet sie.“
Auf unsere Situation bezogen, kann man sagen: Wir leben in einer Spaß- und Konsumgesellschaft und Wein gibt es an jeder Ecke. Aber haben wir ein „frohes Herz“?
Auch hier kann uns die Forschung belehren. Burn-out ist oft gar nicht die Folge von objektiv zu vieler Arbeit, sondern der Unfähigkeit, Erfolge auszukosten – vor allem im Körper Entspannung, Erleichterung und Freude zu spüren – das „frohe Herz“.
Brauchen wir vielleicht die „Braut des Schicksals“, die uns das „frohe Herz“ schenkt?
Sollte das gelingen, dann würde das rationale Wissen seine Grenzen respektieren und seine Arroganz ablegen. Die Intuition könnte sich im Raum der Freiheit immer weiter entfalten und etwas schier Unglaubliches würde geschehen: Jenseits von Glaube und Unglaube würde die große Transzendenz sichtbar, die Davoud als „Kaaba“ oder „Der Treffpunkt“ darstellt.
In Abwandlung des Ausstellungsthemas „Die Welt wartet schon auf die Frauen“ möchte ich hier sagen: Die Welt wartet auf das vereinigende Symbol. Es steht für das Zusammenfallen der Gegensätze, für das Sowohl-als-Auch gegen das Nur, für schöpferische Lösungen gegen Alternativlosigkeit. Kurz gesagt, es ist zutiefst weiblich.
Diese „Kaaba“ verbirgt sich weder in der Erdenschwere noch im Himmelsblau. Von durchscheinender Klarheit wird sie hinter der Dimension des Menschlichen mit seinem Jubel und seinen Abgründen sichtbar. „Freiheit ermöglicht immer ein Verstehen der Zeichen (…) selbst im Angesicht des Todes“.
Ich denke, die Frau „1367“, die sich angesichts der drohenden Vernichtung mit großer Selbstverständlichkeit ihr Haar kämmt, ist aufgehoben in dieser letzten unzerstörbaren Dimension, die in einem völlig undogmatischen Sinn spirituell ist. Erfahrbar ist sie für jeden Menschen, der sich dem Leben stellt mit seinen Höhen und Tiefen, mit seinem Hell und Dunkel.
Das gilt auch für den Künstler. „Der Künstler gehört in die Mitte der Gesellschaft“, ist Davouds Credo, und so hat er sich verhalten. Er hat mit seiner Frau viele Jahre ein Restaurant geführt. Jeder weiß, dass das ohne finanzielle Polster an Selbstausbeutung grenzt. Seine Kreativität und künstlerische Schaffenskraft hat er sich trotz dieser Härten erhalten. Nicht nur erhalten. Er entwickelt sie ständig weiter „durch ein Verstehen der Zeichen, in denen der Ursprung transparent wird.“
Dafür zum Schluss noch ein Beispiel: In der römisch-katholischen Kirche gibt es seit Anfang des Jahres eine Bewegung von Frauen, die Gleichberechtigung fordern – Maria 2.0. Ohne etwas von dieser inzwischen weltweit operierenden Bewegung gehört zu haben malte Davoud ein Bild mit dem Titel: „Maria ist dran“.
Ich danke Ihnen für Ihr Interesse.
Helga Janzen
Dortmund, den 28. Sept. 2019
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Die Ausstellung von Davoud Sarfaraz im Rahmen der Offenen Nordstadt Ateliers 2019 ist Teil des Programms “Namaste 103” von Machbarschaft Borsig11 e.V. im Chancen-Café 103, gefördert von Interkultur Ruhr und realisiert mit den Chancen der Bewohner des Borsigplatz-Quartiers.
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