Die 103 auf Erinnerungsreise

Wir sind eine Gruppe von Sonntagsrednern bei Rolf Dennemann im Salon 103, sind Akteure von Public Residence, sind 3 Rollstuhlfahrer, sind Nachbarn, sind Schauspieler und machen einen Ausflug in die Vergangenheit. Jeder von uns sollte einen Beitrag leisten…

Ein Bericht von Udo Kuhnke
Fotos: Jullian Has

Die Tagestour beginnt. Foto: Jullian Has
Die Tagestour beginnt. Foto: Jullian Sankari

Amanda hatte die Tagestour gut geplant, und so ging es am Samstag, den 18. April 2015 pünktlich um 9:30 Uhr zu Fuß von der 103 zur ersten Station, dem Vincenz-Heim. Bis auf ein im Hof gepflastertes symbolisches Kreuz erinnerte nichts mehr an das frühere katholische Heim für “gefallene Mädchen“. Es war total umgebaut worden seit Udos Messdienerzeit in den 1950er-Jahren, und er erkannte nichts wieder. Sogar ein Fahrstuhl war eingebaut worden. Auch die Kapelle war nicht mehr da. Man hatte eine Zwischendecke eingezogen und so zwei Ebenen geschaffen. In einem sehr alt riechenden Raum erzählte Udo von seiner Zeit als Messdiener, dass der Dienst im Vincenzheim bei den meisten Jungen nicht besonders beliebt war, weil die Messe jeden Tag, auch im Winter, um 6:30 Uhr begann. Aber es gab ein schönes Frühstück mit Wurst, Butter und Milch oder Muckefuck. Das gab es zu Hause nicht jeden Tag. An Nikolaus und Weihnachten erhielt man eine große Tüte mit Stutenkerl und Süßigkeiten, da wollten natürlich die Verweigerer auch sehr gerne Messdiener sein. Es war auch eine gute Zeit für den Pastor. Jeden Morgen eine vollbesetzte Kapelle. Davon träumen die Geistlichen heute.

Udo in der ehemaligen Kapelle im Vincenz-Heim. Foto: Jullian Has
Udo in der ehemaligen Kapelle im Vincenz-Heim. Foto: Jullian Sankari

Von den erst viel später bekannt gewordenen besonderen Erziehungsmaßnahmen der Nonnen wusste damals niemand etwas, obwohl die vielen Fluchtversuche der Mädchen einiges vermuten ließen. Flucht war aber wegen der Anstaltskleidung und der einheitlichen Frisur, die die jungen Frauen tragen mussten sehr, sehr schwierig, fast unmöglich und die meisten wurden wieder zurück gebracht. Udo erzählte auch von seinem Konflikt, als seine Mutter einmal eine Ausreißerin versteckte und ihr weiter zur Flucht verhalf. Nachbarn hatten das dem Pastor verraten, und Udo wurde von den Nonnen und dem Pastor befragt und daran erinnert, dass er als Messdiener ja nicht lügen dürfe. Heute ist das Heim wieder für schwierige Kinder und Jugendliche verantwortlich. Es firmiert jetzt als St. Vincenz-Jugendhilfe e.V.

Irene erzählt von ihrer Zeit als Kneipenwirtin am Borsigplatz. Foto: Jullian Has
Irene erzählt von ihrer Zeit als Kneipenwirtin am Borsigplatz. Foto: Jullian Sankari

Weiter ging es vorbei an Pommes Rot-Weiß – früher Wildschütz, dem Gründungslokal des BVB 09. Natürlich war wieder ein Filmteam da und filmte. Was eigentlich? Vorbei an Kohldampf und Dönerläden, vorbei am alten Polizeirevier Vier, jetzt eine Pizzeria, ging es in die Borsigstraße zur früheren Kneipe „Lückert“. Die hatte Irene kurze Zeit nach ihrer Ankunft in Deutschland übernommen. Aber als die Wohnungen hier modernisiert wurden, das Fernsehen mehrere Programme bekam, das Bier immer teurer wurde und auch bei Hoesch nicht mehr alles rund lief, ging auch die Kneipe nicht mehr so gut, und Irene hörte auf. Die Kneipe ist jetzt ein Laden für alle möglichen Artikel. Übrigens, wer in diesem Viertel nicht kochen kann oder will, muss bei diesem Angebot an warmem Essen, Döner oder Currywurst und Pommes sicher nicht verhungern.

Besuch in der Borsig-Schänke. Foto: Jullian Has
Besuch in der Borsig-Schänke. Foto: Jullian Sankari

Und weiter zogen wir vorbei am ehemaligen Assauer-Kino, jetzt ein aufgegebener EDEKA-Laden mit verdrecktem Outfit, und weiter zur Borsig-Schänke. Hier, wo an Theken und an Tischen griechische Männer sich zur Begrüßung den Schaum von den Lippen wischen, traten wir ein. Augenblicklich war es still. Dichter Qualm erschwerte die Sicht. Da standen Männer am Spielautomat oder spielten so etwas wie Skat. Wenn ihr denkt, ihr denkt, dann denkt ihr nur, dass wir die Einhaltung des Rauchverbots überprüfen. Wir wurden sehr kritisch beäugt, als einige Fotos gemacht wurden – denn in diesem Laden hatten Elise und Udo sich 1961 an einem Silvesterabend kennen gelernt. Es war damals ein Lokal, in dem sich junge Leute trafen. Es war aber damals auch viiiiieeeel gemütlicher und unter dem Geheimnamen „Candlelight-Bar“ bekannt. Aber auch so genossen es unsere Raucher und Raucherinnen, mal wieder bei Kaffee, Espresso, Bier, Cola oder Wasser in einem öffentlichen Lokal zu rauchen. Karin versuchte noch, nach alter griechischer Gewohnheit aus dem Kaffeesatz zu lesen, aber außer brauner Brühe war da nichts. Schade.

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Weiter mit dem Bus in die Innenstadt. Foto: Jullian Sankari

Auch André war inzwischen angekommen, um mit seinem VW-Bus für den Transport der Rollstühle zu sorgen. Von der Tankstelle in der Oesterholzstraße fuhren wir mit einem Bus an der Mauer eines früheren Stromerzeugers vorbei. Die damalige VEW war eine der vielen Dreckschleudern rund um den Borsigplatz. Kürzlich wurde die endlos lange triste Mauer bemalt. Mehr oder weniger künstlerisch, aber schön bunt und ganz ansehnlich. Hoffentlich bleibt sie von den Schmierfinken verschont.

Ein ruhiger Ort in der City. Foto: Jullian Has
Ein ruhiger Ort in der City. Foto: Jullian Sankari

In der Nähe des Hauptbahnhofes gibt es eine Stätte der Ruhe, mitten in der Innenstadt. Birgitt hatte sie entdeckt. Leider war der Ort etwas zu sehr der Natur überlassen, Moos auf der Wasserkugel und schiefe Platten als Weg. Schade, dass die Stadt für solche Ruhepole kein Geld mehr ausgeben will. Und jetzt hier Ruhe finden? Lautstark zogen Fans des BVB und Hoffenheim, vom Bahnhof kommend, vorbei. Jetzt verabschiedete sich auch die Kulturpädagogin Teresa Grünhage aus Duisburg von uns. Dafür kam Rubana.

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Jacek erzählt von seiner Jugend im ehemaligen Elternhaus in Lünen. Foto: Jullian Sankari

Schnell waren wir mit dem Bus in Lünen. Hier hatte Jacek, ursprünglich aus Polen stammend, seine Kindheit mit viel harter Arbeit verbracht. Im Haus seines Stiefvaters half er beim Umbau mit, und auch den Keller um 1,40 m (!!) tiefer zu legen. Dann kam es zu einer dramatischen Wendung. Das Haus wurde versteigert und die Familie musste umziehen. Aber die Käufer hatten den Kontakt zu Jacek nie verloren. Er war sichtlich bewegt, als er von dieser für ihn so unglücklichen Zeit berichtete.

Der Hausherr spielt Klavier. Foto: Jullian Has
Der Hausherr spielt Klavier. Foto: Jullian Sankari

Für Rolf gab es eine Riesenüberraschung, als die Hausbesitzerin fragte: „Sind Sie der Herr Dennemann?“, und erklärte, dass sie vor Jahren einmal an einer seiner Kunst-Aktionen teilgenommen habe. Nach einer Käsesuppe und warmen Weißbrot gab es noch ein Klavierkonzert des Hausherren, mit Stücken verschiedener Komponisten von Chopin bis Sinatras „My Way“, auch mit Gesang, und zum Abschied noch extra für Elise Beethovens “Für Elise“.

Der Busfahrer zeigte seine Klasse, als er bei der Anfahrt zum Haus und besonders bei der Abfahrt, den Bus ohne anzuecken in und aus der zu engen und voll geparkten Straße lenkte. Das Bunte Haus in Witten war das nächste Ziel. Hier hatte Rubana mit Mutter und Schwester einige Jahre gewohnt, als das besetzte Haus – daher der Name Buntes Haus – wieder von regulären Mietern bewohnt wurde.

Ein Denkmal der ersten Liebe. Foto: Jullian Has
Ein Denkmal der ersten Liebe. Foto: Jullian Sankari

Uns fiel an einem kleinen Häuschen gegenüber ein auf die Wand gemaltes Herz auf, ein sehr modernes Herz, mit „Lasse“ als Mittelpunkt. Lasse war Rubanas erste heimliche Schwärmerei, wie sie uns etwas verlegen lächelnd erzählte. Diese Schwärmerei hatte sie mit einem sehr teuren Wimperntuschestift an die Wand gemalt. Wasser- und wischfest hatte dieser die Jahre ohne zu verblassen überdauert. Vielleicht wird dieses Herz einmal genau so berühmt sein wie der Tintenklecks Luthers auf der Wartburg, als er mit dem Tintenfass nach dem Teufel warf, der ihn bei der Bibelübersetzung in deutsche störte.

Ja, und dann kam Lasse, dachten wir. Es war aber nur der gute alte Freund, der Rubanas Mutter zu der Wohnung in dem ehemals besetzten Haus verholfen hatte. Er lud uns zu einem Trommelkonzert der Bewohner des Bunten Hauses ein. Hier bewiesen Rubana als Trommlerin, Amanda mit Bells und Birgitt mit Rumbakugel ihr musikalisches Talent.

Spontane Percussion im Bunten Haus. Foto: Jullian Has
Spontane Percussion im Bunten Haus. Foto: Jullian Sankari

Die Museumszeche Nachtigall wurde nach ca. 20 Minuten Wanderung erreicht. Unterwegs gab es noch ein Wiedersehen: Rolf traf eine sehr lange nicht gesehene junge Kollegin. Wieviel Zufälle an einem Tag für Rolf? Die Sonne schien noch immer, und der Durst und Appetit waren dem Wetter entsprechend groß. Rolf und Udo waren als erste vor Ort und stellten mit leichtem Bedauern fest, dass das Zechenlokal gut belegt war. “Dann werden wir uns wohl sehr getrennt setzen müssen“, meinte Rolf. Aber plötzlich, fast panikartig, verschwanden alle Gäste und wir hatten das Zelt-Lokal für uns.

Auf dem Weg zur Zeche Nachtigall. Foto: Jullian Has
Auf dem Weg zur Zeche Nachtigall. Foto: Jullian Sankari

Dann, nach Kaffee, Obsttorte, Käsekuchen, Currywurst und Bier machten wir uns auf die Heimfahrt. Amanda sang dabei ein Lied für uns, und als der Bus dabei über eine Schüttelstrecke fuhr, bekam ihre Stimme noch ein zusätzliches wunderschönes Timbre. Nachdem wir gerade noch einem Stau auf der Autobahn ausweichen konnten, kam eine erfreuliche Nachricht von Volker: Borussia hat gewonnen. Da waren natürlich die Straßen nach Dortmund von Fans in Autos und zu Fuß verstopft, und es ging entsprechend langsam. Aber der Busfahrer war Vollprofi und kannte die Um- und Schleichwege fast so gut wie André, der schon vor uns die 103 erreichte.

Ein wunderschöner Tag war zu Ende. „Das müssen wir aber unbedingt wiederholen“, war die einhellige Meinung aller Teilnehmer.

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Die Tagestour wurde realisiert mit den Chancen der Bewohner des Borsigplatz-Quartiers
eine Aktion von Olek Witt
im Rahmen von PUBLIC RESIDENCE: DIE CHANCE
ein Projekt von Machbarschaft Borsig11 e.V.
in Kooperation mit der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft

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