Oh, da waren aber viele ganz traurig, dass sie es 2010 verpasst hatten, die „2-3 Straßen“ zu besuchen. Die meisten der rund 200 geladenen Gäste hatte gar keine Ahnung, dass es im Ruhrgebiet so eine außergewöhnliche Kunstaktion gegeben hatte. Die ein oder der andere bedauerte sogar, nicht als Teilnehmer in einer der leer stehenden Wohnungen mit dabei gewesen zu sein.
Hermann Pfütze, Herausgeber des Making of-Buches von „2-3 Straßen“ hatte den Anstoß gegeben, das Konzeptkunstwerk Revue passieren zu lassen und darauf die Akademie der Künste Berlin angesprochen. Die war gleich enthusiasmiert und holte die NRW Landesvertretung mit ins Boot, dorthin lud man am 5. November ganz exklusiv ausgewählte Kunstinteressierte reiferen Semesters.
Den anerkennenden Ansprachen von Johannes Odenthal (Programmbeauftragter der Akademie der Künste), Christian Esch (Direktor des NRW KULTURsekretariats), Doris Gau (Fachbereichsleiterin der Landesvertretung) und Hermann Pfütze (mehr dazu hier) folgte eine Lesung aus dem entstandenen Schinken, der 3.000 Seiten umfasst. Ruth Reinecke und Michael Klammer lasen auf Seitenzahlzuruf. Klammer erfasste die absatzlos abgedruckten Selbst- und Fremdbespiegelungen auf den ersten Blick und rezitierte sie so ausdrucksstark, als handelte es sich um seine eigenen Gedankengänge.
Die wenigsten hatten mit qualitativ so hochwertigem Lesestoff gerechnet. Alle zufällig ausgewählten Textstellen waren inspirierend, interessant, spannend, ganz unterschiedlich. Man sollte öfter öffentlich aus diesem Wälzer vorlesen (oder sich noch schnell einen Band sichern!) :-D. Es wurde gar nicht langweilig. An einer holländischen Textstelle stellte sich ein Landsmann aus dem Publikum zur Verfügung und rezitierte diese. Dann war Jochen Gerz gefragt. Florian Matzner, Kurator der Emscherkunst, fragte ihn nach Konzeptidee und Kunstverständnis und erfuhr, dass 2006 eine „große Wut“ Ideengeber für „2-3 Straßen“ gewesen sei, Wut darüber, wie sehr Kunstwerke zumeist am Gros der Menschen vorbeigingen. Gerz zieht es vor, wenn seine Werke „in der Gesellschaft verschwinden“. Ist das noch Kunst? Streiten wollte darüber niemand, im Gegenteil, aber wissen, ob der 72-Jährige sich als Künstler versteht. „Ja“, lautete die Antwort, er habe lange genug darum gekämpft, ein Künstler zu sein, und jetzt könne er gar nicht mehr anders. Doch wolle er nie einer sein, der fürs Museum arbeitet, Picasso habe dies allerdings auch nicht gewollt, und trotzdem hinge er nun drin.
Am Ende waren viele Besucher neugierig zu erfahren, wie es sich so gelebt hatte im Quartier am Borsigplatz, ob denn alles glatt gelaufen sei, ob es anstrengend war, ob man sich gegenseitig hat leiden mögen … Vier Teilnehmer standen mit vollem Munde Rede und Antwort, weil man sich inzwischen schon am warmen Buffet gütlich tat. Dass es am Borsigplatz mit dem Borsig11 e.V. weitergeht, fanden alle toll. „Die 2-3 Straßen sind ein Glücksfall für Dortmund.“ Implizit stand das im Projektbüro an die Wand gemalte Zitat von Jürgen Rüttgers hier in Berlin mitten im Raum.